Das jüdische Deggendorf – Vergessen, verdreht, verklärt.

Dr. Florian Schneider
Stadtarchivar und Stadtheimatpfleger

Pogrom

Im Spätmittelalter gab es eine Anzahl jüdischer Familien in Deggendorf, die ein eigenes Stadtviertel südlich der heutigen Grabkirche bildeten. Ein echter Teil der damaligen Stadtgemeinschaft waren sie allerdings nicht: Sie waren einerseits physisch ausgegrenzt, da sie außerhalb der schützenden Stadtmauern siedeln mussten. Zudem waren sie auch gesellschaftlich ausgegrenzt, da sie nicht am Berufsleben der christlichen Bevölkerung teilhaben durften. Ob und wo die Deggendorfer Juden möglicherweise eine Synagoge oder ein vergleichbares religiöses Zentrum besaßen, lässt sich heute nicht mehr feststellen.

Ohne die Möglichkeit, den Zünften oder ähnlichen Berufsgruppen des christlichen Deggendorfs beizutreten, wichen die Juden auf den Finanzsektor aus, der kein exklusiv katholisches Tätigkeitsfeld darstellte. Ihre christlichen Mitbürger konnten diese Kredite mit drückenden jährlichen Zinssätzen bis jenseits der 40% in der präindustriellen, agrarisch geprägten Wirtschaft nur solange bedienen, wie es keine größeren Ernteausfälle oder andere externe Störfaktoren gab.

Beides geschah jedoch in relativ kurzer Folge während der 1330er Jahre: Nach einem verheerenden Stadtbrand kam es zusätzlich zu einer Missernte. Die Christen konnten die Zahlungen an ihre jüdischen Gläubiger nicht mehr aufbringen und lösten ihr Dilemma auf brutale Weise: In einem Pogrom 1338 wurde die jüdische Bevölkerung Deggendorfs gewaltsam ausgelöscht. Eigentlich unterstanden die Juden dem Schutz des Landesherrn, der auch der Erbe ihrer Geldforderungen gewesen wäre. Herzog Heinrich XIV. kam seiner Verantwortung als Schutzherr auch posthum nicht nach: Er erließ den Deggendorfer Christen nicht nur alle Schulden gegenüber ihren ermordeten Mitbürgern, sondern verzieh ihnen auch den Demozid an der jüdischen Bevölkerung und übereignete ihnen alle im Zuge des Pogroms erbeuteten jüdischen Besitztümer.

Das abgebrannte Judenviertel wurde von den Christen wiederbesiedelt und in den Schutz der entsprechend verlängerten Stadtmauer einbezogen. So entstand der heute noch sichtbare birnenförmige Grundriss der Deggendorfer Altstadt als Vergrößerung der vormals etwa kreisrund konzipierten Anlage. Alles Jüdische verschwand aus dem Stadtbild. Eine letzte Spur der alten Südmauer sind die Schwibbögen über der Gasse westlich der Grabkirche, die in alter Zeit die Stadtmauern mit der angrenzenden ersten Häuserzeile zur Verstärkung gegen Beschuss verbanden. Etwa auf dem Verlauf dieser alten Südmauer entstand nach dem Pogrom eine Kirche unter dem Patrozinium der Apostel Petrus und Paulus. Bis etwa 1600 wurde eine dort aufgestellte Replik des Heiligen Grabes besonders zur Fastenzeit als Kultobjekt verehrt.

Gnad

Einige Jahrzehnte nach dem Pogrom kam zur Rechtfertigung ein Gerücht auf, das den Demozid zur rein religiös motivierten Vergeltungsaktion der Deggendorfer Christen an ihren jüdischen Mitbürgern für einen frei erfundenen Hostienfrevel verklärte – eine infame Täter-Opfer-Umkehr, die im kollektiven Gedächtnis die tatsächlichen wirtschaftlichen Motive des Pogroms langsam verdrängte. Stadtpfarrer Sartorius druckte diese falsche Legende 1604 als Buch.
Schließlich wurde der Kult um das Heilige Grab ab dem 17. Jahrhundert sukzessive von einer Wallfahrt abgelöst, in der die frei erfundene Hostienschändung durch die Deggendorfer Juden durch die Christen stellvertretend alljährlich „gesühnt“ werden sollte. Die Grabkirche wurde auch architektonisch entsprechend stark verändert. Weithin sichtbar war die Kuppelmonstranz auf dem Turm ab 1776, welche die Hostienmonstranz in der Kirche symbolisierte.
Völlig entkoppelt von den historisch belegten Fakten entwickelte sich mit der „Deggendorfer Gnad“ ein populärer katholischer Kult: Jedes Jahr vom 29. September bis zum 4. Oktober fand die sogenannte Gnadwallfahrt statt. Sie war mit jährlich etwa 50000 Besuchern gut besucht, zur 400. und 500. „Gnad“ im 18. bzw. 19. Jahrhundert sind uns jeweils mehr als 100000 Pilger überliefert – aus Altbayern, Böhmen, Österreich und Ungarn. Ein „Gnadenmarkt“ umrahmte das Spektakel wirtschaftlich.
Der Kult um einen aus Geldmangel begangenen Pogrom wurde so zu einer Einnahmequelle der Stadt.

Kritik an der Gnad kam seit dieser Zeit immer auf. Seit den 1960er Jahren forderten auch katholische Stimmen im Geist des II. Vaticanums die Beseitigung judenfeindlicher Elemente bzw. die Abschaffung der Gnad insgesamt. Der Kompromissversuch, die Gnad ab 1962 zu einer Art Doppelsühne für den angeblichen Hostienfrevel und nun auch den Pogrom umzudeuten und antijüdische Kunstwerke zu entfernen, konnte die Diskussion nicht mehr stoppen.

Auf Betreiben der katholischen Kirche selbst untersuchte der aus Deggendorf stammende Kirchenhistoriker Manfred Eder im Rahmen seiner Dissertation die Gnad wissenschaftlich und deckte die rein wirtschaftlichen Motive des Deggendorfer Pogroms im 14. Jahrhundert auf. Die Gnad wurde daraufhin 1992 durch die zuständige Diözese Regensburg endgültig eingestellt. Eine Tafel an der Grabkirche erinnert heute an das jahrhundertelange Unrecht an den Juden. Seit den 2000er Jahren entwickelten sich mit der Deggendorfer Glaubenswoche bzw. den Glaubenstagen neue Formen des religiösen Miteinanders und der Ökumene.

 

Grundlegende Literatur / Mehr zum Thema
• Behrendt, Lutz-Dieter: Deggendorf. Kleine Stadtgeschichte. Regensburg 2017, ISBN 978-3-7917-2646-5
• Manfred Eder: Die „Deggendorfer Gnad“. Entstehung und Entwicklung einer Hostienwallfahrt im Kontext von Theologie und Geschichte. Passavia-Verlag, Passau 1992, ISBN 3-86036-005-1 (zugleich Dissertation, Universität Regensburg 1991)
• Im Deggendorfer Stadtmuseum, Östlicher Stadtgraben 28, 94469 Deggendorf, https://stadtmuseum.deggendorf.de, finden Sie eine ausführliche Ausstellung zu den Themen um die Deggendorfer Gnad

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